H2SO4, Georgische Avantgarde und Typografie, Reprint von 1924
H2SO4. Nr. 1. (Mehr nicht erschienen.) [Faksimile der Originalausgabe von 1924]. Tiflis: 2011.
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Beschreibung
H2SO4. Nr. 1. (Alles Erschienene). [Faksimile der Originalausgabe von 1924]. Tiflis: Vlg. d. Staatlichen Literaturmuseums 2011.
4° (30,7 x 21 cm). 48 nicht nummerierte, beidseitig bedruckte Seiten. Offset auf dünnem Maschinenpapier, broschiert.
Originalgetreue Reproduktion der dadaistischen Zeitschrift H2SO4, der wohl bedeutendsten Publikation der Avantgarde in Georgien und einem der herausragendsten Beispiele experimenteller Typografie der Avantgarden überhaupt.
Inhalt: Das Original der in nur einer Nummer erschienenen Zeitschrift wurde am 25. Mai 1924 im Selbstverlag der gleichnamigen Tifliser Avantgarde-Gruppe »H2SO4« veröffentlicht, deren Kern aus den Künstlern Irakli Gamrekeli und Beno Gordeziani, sowie den Literaten Niko Chachava und Simon Chikovani bestand. Tiflis war dank Ilya Zdanevich (später Iliazd) und seines Bruders Kirill, die beide aus der Stadt stammten und zu deren seit 1918 bestehender Gruppe 41° auch die im Zuge der Oktoberrevolution aus Russland exilierten Kruchionykh und Terentev gehörten, ein Zentrum der Avantgarde gewesen. Die Annexion Georgiens durch die Rote Armee im Jahr 1921 setzte dieser Gruppe ein Ende, doch ihr Einfluss auf die lokalen Künstler und Schriftsteller blieb bestehen. Deren progressivste Vertreter gründeten um 1922 die H2SO4-Gruppe, die vorliegende Publikation gilt als deren wesentliches Organ.
Die Texte von H2SO4 verstehen sich in bester dadaistischer Manier, schon in der Einleitung wird die gesamte bisherige georgische Kunst und Literatur verworfen. Dafür steht auch der Titel wie der Name der Gruppe: »H2SO4«, die Summenformel für Schwefelsäure. (Die Stadt Tiflis ist auf Gestein mit schwefelhaltigen Heilquellen gebaut.) Chikovani, Gamrekeli, der auch als Bühnenbildner am Rustaveli-Tehater wirkte, und ihre Gefolgsleute proklamieren stattdessen eine neue georgische Kunst und Literatur, die auf Dada, georgischer Verssprache und Typografie im Dialog mit der von den russischen Futuristen entwickelten Kunstsprache Zaum, schließlich auf einer kubistischen und konstruktivistischen Bildsprache (sh. Malevichs »Schwarzes Quadrat« auf S. 7) fußt, was letztlich alles der sozialen Revolution dienen soll. – Dada spielt in der Poetik und Bildästhetik der H2SO4-Gruppe eine besondere Rolle: Zum ersten Mal wird auf dem Gebiet der Sowjetunion Tristan Tzaras „Manifest Dada“ abgedruckt, mit dem man in Tiflis, wohl vermittelt durch den seit 1920 in Paris ansässigen Iliazd, über die im Erscheinungsjahr von H2SO4 bei Jean Budry in Paris verlegten Ausgabe der „7 manifestes dada“ bekannt wurde.
Illustration: Die dynamische und äußerst experimentelle typografische Gestaltung von Gamrekeli und Gordeziani (im Original in Zinkografie wiedergegeben) steht ebenso unter dem Einfluß des gelernten Typographaen Iliazd, wie dieser sie wohl am wirkungsmächtigsten mittels kyrillischer Lettern in seiner Zaum-Publikation „LidantYU fAram“ (Paris, 1923) verwirklichte. Darüber hinaus aber denkt man in H2SO4 auch die georgische Typografie neu: „It is Georgian fonts that are given new meaning throughout its pages. This is why this magazine is so special. In it, Georgian letters begin to act out their carefully-thought-out Futurist-Dadaist play for the first time; they grow and shrink, they reverse and straighten again; they express sounds through their appearance and interrelation.“ (Kitsurahvili/Janiashvili, S. 15)
Seltenheit: Obschon die Höhe der Auflage für das Periodikum mit 1000 überliefert ist, werden Exemplare der Originalausgabe kaum angeboten, und sind sie auch in institutionellen Beständen selten. Mit Stichtag 20.2.2022 lassen sich über WorldCat, KVK und ViaLibri-Library weltweit lediglich 3 Exemplare in institutionellen Beständen außerhalb Georgiens lokalisieren (u.a. London [British Library], New York [Columbia], Yale). Gemäß JAP/APO und RBH wurden bisher auch nur 5 Exemplare des Heftes auktioniert, wovon keines gut erhalten. Zudem sind nur zwei weitere Exemplare, davon eines mit Besitzervermerk von Chikovani, bekannt geworden.
Literatur: Nicht in Dada (Centre Pompidou) 2005 (dort auf S. 511 über H2SO4), Destribats 2011 und Dada global (dort Ss. 107-111, hier zit. S. 110 über H2SO4 u. S. 235, Nr. 204 „LidantYU fAram“]; Tatiana L. Nikolskaia: The Reception of Dadaism in Georgia. In: Foster et al.: The Eastern Dada Orbit. New York: 1996, Ss. 181-83 (Abb. 9.6a-c); Chepyzhov et al.: New Georgian Book Design. Warschau: 2018, Ss. 64-67 (m. 5 farb. Abb.); Chepyzhov/Shildelashvili: The Flaming Alley: the development of Kirill Zdanevich as a book designer. In: Kirill Zdanevich 1892-1969. Tiflis: 2020, S. 311-15; Ketevan Kinturashvili, David Janaishvili: From DEDA ENA to H2SO4. Wojnowice: 2018; MoMA, The Russian Avant-Garde Book, Ss. 128-129, Nr. 534.