Das ist »Papirku« aus Suceava in Rumänien, der einst im Lotto gewonnen hatte. Als er sein Geld holen wollte, fand er aber den Tippschein nicht mehr, drehte durch und wurde Antiquar wider seinen Willen. Diese tragikomische Geschichte erzählte mir Mihai-Aurelian Căruntu, der Fotochronist des am östlichen Rand Rumäniens und der Europäischen Union entlegenen Städtchens. Suceava hat sich in seiner Geschichte oft und viel bewegt. Die Stadt war durch den gleichnamigen Fluss im 19. Jahrhundert etwa zwischen der österreichischen Bukowina und der rumänischen Moldau geteilt. Bis heute ist diese Grenzlage durch zwei Hauptbahnhöfe augenscheinlich. Im kakanisch klassizistischen von den beiden war ich an einem Sommermorgen des Jahres 2015, aus Bukarest kommend, eingerollt.

Herrn Căruntu lernte ich kurz darauf in seinem Fotogeschäft kennen, das er in einer verwinkelten Gasse der Altstadt betreibt: dort schießt er Porträts von Hochzeitpaaren in Kitsch und Glitter, bastelt Collagen, auf denen sich Bildchen von überschminkten Maturantinnen in Schuluniform um die Fotos ihren gestrengen Lehrer scharen, und schachert, um sein Auslangen zu finden, auch ein bißerl mit Papierwaren. Beim Vorbeiflanieren stoppte ich vor der Auslage, in der vergilbte Abzüge mit historischen Motiven zu sehen waren, darunter eben solche vom ehemaligen K.k. Bahnhof. Und meine antiquarische Spürnase nahm selbstschnüffelnd Fährte auf: Bahnnostalgiker sind Sammler auf Linie…

Drinnen nahm ich zuerst einen alten Mann wahr, der mit einer Lupe über alten Fotos gebeugt saß. Er sah mürrisch auf, mustere mich dann misstrauisch, um sich schließlich wieder seinem Geschäft zu widmen. Als ich ihm auf Rumänisch einen Guten Tag wünschte und mein Begehr äußerte, löste sich sein Grant aber und er winkte mich launisch zu sich. Aus einer dunklen Ecke schnarrten mir plötzlich einige deutsche Sätze entgegen. Es war dieses säuselnde Altschönbrunnerisch mit magyarisch gewürzter Lautdehnung, das man heute nur noch vereinzelt hört in den entrischen, bis zum Aufhören schrumpfenden deutschen Sprachenklaven des früheren Österreich-Ungarn. Wie auch Suceava eine ist, wo noch um 1930 ein gutes Vierterl der Bevölkerung mit Deutsch oder Jiddisch-Daitsch Umgang pflegte, wie ich bald erfahren sollte. Ich spernzelte verschämt ins Eck, aus dem die Stimme gekommen war, und erkannte noch einen Mann, einen steinalten, mit Strohhut im Sessel versunken. Er hatte wohl meinen Akzent bemerkt und daraus geschlossen, ich müsse ein Deutschsprachiger sein.

Herr Căruntu eröffnete mir in der Folge ein pānoptikón der Stadt in ihrer Geschichte. Er muss wohl jede Straße, jedes Gebäude geknipst, oder davon allerorts und über Jahrzehnte unaufhörlich Bildmaterial gesammelt haben. Schon sein Vater habe das Fotogeschäft betrieben, erzählte er mir, und nebsbei dieses fotodokumentarische Hobby gepflegt; ein Erbgut also, oder eine Erblast: je nach Auffassung. Der Vater seines Vaters wiederum hätte noch “unterm Kaiser” beim Chrzanowski gelernt, der das erste Fotoatelier der Stadt betrieben hätte, was der deutsche Domnul Ecksitzer, seinen Strohhut lüftend, sich zu bestätigen beeilte. Der Großvater habe das Geschäft dann übernommen, bis heute sei es im Familienbesitz. Aus seinem reichen Fundus übrigens edierte Herr Căruntu mit Hilfe des örtlichen Verlegers Romstorfer im Jahr 2013 auch einen klobigen Fotobildband: »Das Suceava der Ränder. Verloren, vergessen, unbekannt«. Ich ließ mir das Buch umgehend andrehen. Aus Kalkül, weil ich hoffte, Herr Căruntu würde mir in weiterer Folge Originalabzüge der darin abgebildeten Fotos anbieten. Und auch aus Solidarität mit dem sympathischen Autor. Auch im Lokalfernsehen sei Herr Căruntu über seine Fotos ein Begriff, schnarrte die Stimme aus dem dunklen Eck ergänzend.

Mehr noch als der Titel weckte aber die Einbandcollage des Fotobands meine Neugier. Vor dem Hintergrund eines vorstädtischen Häuserpanoramas sah ich darauf eine chaplineske Figur montiert, eben Papirku. Sein Blick, in dem sich Wahn, Entschlossenheit und eine abgrundtiefe Trauer mischen, hatte es mir sofort angetan. Vorgeschobenen Kinns scheint er den Betrachter damit zu hypnotisieren und in seine Geschichte hineinziehen zu wollen. Wie ein brüchiger Felsen steht er da: breitbeinig in großen Galoschen, den Schlapphut in die Stirn gezogen, den dürren Gehstock rechts, die berstende Mappe mit Altpapier links eingeklemmt. In den mit Orden behängten, zerfledderten Kleppermantel scheint er hineingestellt. Ein Jäger des verlorenen Tippscheins…

Herr Căruntu, der bemerkt hatte, wie mich dieses Bild in seinen Bann zog, begann zu erzählen: »Papirku», frei übersetzt »Papierener« (wie ich anmerken muss nicht zu verwechseln mit einem brillanten, aber dem falschen Verein zugehörigen Wiener Fußballer und Zeitgenossen gleichen Rufnamens), Papirku also, das sei der Beiname, mit dem dieser Mann wegen seiner Lebensgeschichte bedacht worden sei. Und die verlief laut Erzähler so: Papirku sei einst ein gut situierter Anwalt gewesen, eine Stütze der Bourgeoisie von Suceava. Ja, wenn schon was da ist, kommt meist noch was dazu, meinte Herr Căruntu, und so sei es zu erklären, dass Papirku eines Tages auch noch im Lotto ein Vermögen gewonnen habe. Doch als der Glückspilz seinen Gewinn habe einlösen wollen, sei der Tippschein nicht mehr aufzufinden gewesen.

Die Suche nach dem Zettel habe sich für den Getriebenen bald zur Obsession ausgewachsen. Doch der Lottoschein blieb verschollen. Gleich dem grotesken Helden aus Ion Caragiales Novelle »Zwei Lose« (1901) habe Papirku zunehmend Beruf und Heim vergessen und seine Zeit damit verbracht, in Mistkübeln, an Straßenecken und auf Müllhalden manisch nach eben jenem verfluchten Stück Papier zu suchen, das längst zur Fata Morgana entrückt war. Letztlich sei er vollends dem Wahn verfallen und habe alles Vermögen, Obdach und Familie verloren. Um zu überleben sollte er sich von nun an und bis an sein baldiges Lebensende als Zuträger für die Antiquare vor Ort verdingen: denn auf den Spuren des Lottoscheins habe Papirku, die Augen fokussiert auf Papier, immer wieder durchaus wertvolle Bücher, Handschriften, Grafik, Ephemera und sonst Verwertbares gefunden, woran ihm aber weiter nichts gelegen sei, als sich damit die nächste Mahlzeit oder einen Schlafplatz für die kommende Nacht zu sichern. Denn er musste doch bei Kräften bleiben, um schon morgen den Lottoschein endlich zu finden, endete Herr Căruntu sein Erzählung und seufzte tief. Aus dem Eck schnarrte es bemitleidend.

Originalfotos konnte ich in Herrn Căruntus Fotoatelier keine erwerben. Aber die »Ränder von Suceava« und damit auch der als Fotoreproduktion montierte Geist von Papirku bereichern heute meine Handbibliothek. Die Tragik seiner Geschichte hat gleichzeitig etwas Komisches. Auch die pittoresken Umstände, in denen mir eine solche Vita zugetragen wurde, finde ich als jemand, der mit dem Handel von vielerlei Arten alten Papiers sein Auslangen zu finden sucht, immerhin berichtenswert, weshalb ich dieses Reiseerlebnis auch teilen wollte. Und das ist mir ja auch gelungen, wenn Sie meinen Bericht bis hierher und also zu Ende gelesen haben.